Es war um 1900. Einige Studenten der Technischen Hochschule Darmstadt, die sich vom Maschinenbaustudium her kannten, fanden sich wie gewöhnlich in der Darmstädter Gaststätte „Hanauer Hof“ beim Bier zusammen. Die jungen Männer hatten wohl nicht die Absicht, einen neuen Verein oder gar eine neue Verbindung ins Leben zu rufen. Sie suchten Geselligkeit und Abwechslung, wollten wohl auch dem Gekeiltwerden irgendeiner ansässigen Korporation entgehen, entwickelten durchaus eigene Vorstellungen und Gedanken eines eigenen Klubs.
Die Zusammenkünfte waren regelmäßig. Der Zusammenhalt dieser Studenten war mittlerweile so groß, dass diese am 1. Juni 1902 einen akademischen Stammtisch gründeten. Und weil man sich stets im „Hanauer Hof“ an einem runden Tisch traf, der in einer Ecke des Lokals stand, nannte sich dieser Stammtisch scherzhafterweise „Runde Ecke“. Bereits im Wintersemester 1902/03 fand eine erste konstituierende Generalversammlung statt. Ein Vorstand musste bestimmt und eine Satzung ausgearbeitet werden, außerdem sollte der Stammtisch „Runde Ecke“ einen Zirkel und Farben erhalten. Man dachte zwar immer noch nicht an die Neugründung einer Verbindung, dennoch wollte man auf korporative Attribute nicht verzichten – und dazu gehörten Farben und Kommerse. Als Farben wählte man rot-weiß-gold, getragen im Wein- und Bierzipfel. Ein Zirkel mit einem großen „R“ wurde festgelegt und eine Satzung ausgearbeitet.
Nun musste die Vereinigung noch beim Rektorat der Technischen Hochschule angemeldet werden, aber der Name „Runde Ecke“ gefiel dem Rektor begreiflicherweise nicht – klang er doch viel zu bieder und (spieß-)bürgerlich, zu wenig akademisch und hochschulgemäß. Es musste also ein anderer Name gefunden werden, um den Charakter des Stammtisches als Korporation besser zum Ausdruck zu bringen. Am 8. Juli 1905 fasste der GC einstimmig den Beschluss, den Stammtisch in die Darmstädter Burschenschaft „Rugia“ umzuwandeln. Auch die Farben mussten geändert werden, man wählte nun die Farben schwarz-bordeauxrot-gold auf weißem Grund. Am 26. Juli 1905 erfolgte daraufhin die Genehmigung der Umwandlung in die Burschenschaft Rugia durch Rektor und Senat der Technischen Hochschule Darmstadt.
Bereits auf der Weihnachtskneipe 1903 war ein ADB-Burschenschafter zu Gast, durch den man die erste Berührung mit diesem Dachverband bekam. Nun wurde darüber diskutiert, als Burschenschaft in den Allgemeinen Deutschen Burschenbund (ADB) einzutreten. Auf dem 23. Bundestag des ADB in Frankenhausen am Kyffhäuser erfolgte 1906 die Aufnahme der Burschenschaft Rugia in den ADB.
Im August 1914 wurde die Burschenschaft vom Kriegsausbruch überrascht, so dass die meisten ihrer Mitglieder direkt aus der Heimat zu ihren Regimentern eilten und nur wenige nach Darmstadt zurückkehrten. Mitte Dezember 1914 war nur noch ein Bundesbruder in Darmstadt, der die Kriegsvertretung führte. Auch die Mitglieder des Altherrenbundes wurden eingezogen.
Nach Beendigung des 1. Weltkrieges fanden sich im WS 1918/19 einzelne aktive Rugen wieder in Darmstadt ein, um neu zu beginnen. Der Krieg hatte auch bei Rugia schwere Wunden geschlagen, aber Dank der Aufnahme des „Akademischen Stammtisches Cimbria“ hatte Rugia 1919 bereits 24 Aktive und nahm in Darmstadt sofort eine geachtete Stellung ein. Da die Treffen der Rugen seither in verschiedenen Gasthäusern stattfanden, war es eine bemerkenswerte Leistung, dass bereits im Februar 1920 ein eigenes Haus am Schlossgartenplatz erworben werden konnte. In einer 1926 geführten Unterhaltung über die „mangelhafte gesellschaftliche Ausbildung unserer Mitglieder“ gelangte man zu der Erkenntnis, dass es förderlich wäre, wenn die Bundesbrüder u.a. Tennis spielen lernten. Dank Initiative, Begeisterung und Mut seiner Mitglieder gelang es, ein eigenes Sportgelände herzurichten, um eine exklusive Sportart betreiben zu können; damit war man allen ansässigen Korporationen einen Schritt voraus. Ende der zwanziger Jahre war Rugia zu einer geachteten und starken Korporation sowohl in Darmstadt als auch im ADB herangewachsen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 mussten sich auch die Korporationen auseinandersetzen. Auch für unsere Rugia bedeutete dieses Datum einen tiefen Einschnitt. Rugia erhielt den Befehl, sich mit den Burschenschaften Thuringia-Göttingen, Borussia-Hannover und Alsatia-Braunschweig zusammenzuschließen und nach Hannover zu gehen. Die neu gebildete Burschenschaft hieß: Rugia – Hannover. Bereits Anfang 1934 wurde die Selbstständigkeit des ADB aufgehoben, und die 12 durch Fusion entstandenen „neuen“ Burschenschaften wurden geschlossen in die Deutsche Burschenschaft (DB) überführt. „Rugia-Hannover“ konnte trotz erheblicher Anstrengungen nicht leben, so kehrte Rugia nach knapp zwei Jahren wieder nach Darmstadt zurück. Im Oktober 1935 löste sich auf der Wartburg die Deutsche Burschenschaft auf, deren Mitglieder sollten in Kameradschaften, die dem NSDStB unterstanden, eintreten. So kam es zum Zusammenschluss unseres AHB mit der Kameradschaft Pfletschinger zur „Kameradschaft Yorck“. 1943 konnte die Kameradschaft ein repräsentatives Haus in der Bismarckstraße beziehen, das aber 1944 mit dem schweren Luftangriff auf Darmstadt zerstört wurde. Nach Kriegsende begannen einige Alte Herren und ehemalige Yorcker mit dem Sammeln von Adressen, so dass es im Oktober 1947 zum ersten AH-Tag in Alsfeld kam. Im folgenden Jahr wurde die Genehmigung für den „Freundeskreis Runde Ecke“ erteilt, der Name Rugia durfte an der Technischen Hochschule erst seit 1949 wieder erscheinen.
Da beide Rugenhäuser durch den Krieg verloren gingen, wurde schon auf dem AH-Tag 1949 über einen Hausbau heftig diskutiert. Ein Grundstück in der Wienerstraße, das erst einmal vom Trümmerschutt befreit werden musste, wurde gekauft. In mehreren Bauabschnitten entstand ein schönes Haus, das jungen Studenten modern ausgestattete Zimmer und Gemeinschaftsräume bietet.
Ende 1952 erfuhr der AHB-Rugia eine enorme Stärkung. 26 Bundesbrüder der früheren ADB-Burschenschaft Rheno-Cheruscia Frankfurt wurden Rugen, weil nach dem 2. Weltkrieg ihre Burschenschaft nicht wieder neu begann.
Bei der Wiedergründung der DB am 12. Juni 1950 enthielt sich Rugia bei der Abstimmung über den Wiedergründungsbeschluss, da auf dem Burschentag ein intoleranter und reaktionärer Geist festzustellen war. Nach einer intensiven internen Diskussion wurde auf dem GC am 22. Juli 1950 doch beschlossen, der DB beizutreten. Im Jahre 1955 wurde die Bestimmungsmensur als Verbandsprinzip in der DB eingeführt; 1970 beschloss Rugia, sich von der Durchführung von Pflichtmensuren zu lösen. Daraufhin wurde sie von Seiten der DB suspendiert, was aber 1971 wieder aufgehoben wurde. Auf dem GC im Jahre 1972 wurde innerhalb der Rugia die fakultative Mensur beschlossen. In den 80er Jahren wurden Stimmen innerhalb der Burschenschaft Rugia laut, die für einen Austritt aus der DB votierten. Der Grund, der dazu führte, war die tiefe Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen in der DB, ganz besonders die innere Zerstrittenheit der DB, die praktisch zu einer Lähmung des Dachverbandes führte. Nach längerer Diskussion genehmigte 1990 der GC der Burschenschaft Rugia den Austritt der Aktivitas aus der DB mit der Auflage, innerhalb der nächsten vier Jahre einen neuen Dachverband aufzubauen. Die Aktivitas trat daraufhin auf dem Burschentag 1990 aus der Deutschen Burschenschaft aus. Noch im selben Jahr brachte die Aktivitas ihre Gedanken zu Papier, schrieb eine Satzung und Geschäftsordnung für einen neuen Dachverband und nahm erste vorsichtige Kontakte zu zwei Bünden auf, die interessiert schienen, darunter die Burschenschaft der Bubenreuther in Erlangen. Mehrere Treffen führten dann am 18. Mai 1991 in Erlangen zur Gründung der Vereinigung Deutscher Burschenschaften (VDB) durch die Burschenschaft Rugia Darmstadt, die Burschenschaft der Bubenreuther Erlangen und die Burschenschaft Alemannia Freiburg. Der Eintritt der Aktivitas in den neuen Dachverband und der Verbleib des Altherrenbundes in der DB war Grund für einen ausführlichen Schriftwechsel mit der DB. Auf dem Burschentag 1995 wurde trotz unserer heftigsten Gegenwehr beschlossen, den Altherrenbund aus der DB auszuschließen. Nach dem Ausscheiden von drei Bünden aus der VDB und deren Übertritt in die NeueDB wurde auf dem GC 1997 mit überwältigender Mehrheit beschlossen, der Neuen Deutschen Burschenschaft beizutreten, was dann am 31. Mai 1997 erfolgte. Wie ein roter Faden zieht sich eine starke liberale Haltung durch die 100jährige Geschichte unserer Burschenschaft. Stets war B! Rugia bestrebt, neue Ufer zu erkunden ohne Bewährtes über Bord zu werfen. Wir sehen eine gesellschaftliche Verantwortung unserer Burschenschaft auch in heutiger Zeit. Die Mitarbeit unserer Bundesbrüder in studentischen Organisationen und politischen Parteien versuchen wir zu initiieren und unterstützen diese. Zu dieser Verantwortung zählt ebenfalls die Persönlichkeits-Bildung unserer jungen Bundesbrüder, die wir mit internen und externen Seminaren untermauern.
Wir versuchen, unsere Bundesbrüder bereits in jungen Jahren
zu fördern, indem wir ihnen Praktika in "exotische" Länder vermitteln, wobei wir Staaten der Europäischen Union nicht mehr als wirtschaftliches Ausland ansehen. Wir arbeiten an Konzepten, wie wir unsere Bundesbrüder stützen können in einem gesellschaftlichem Umfeld, das gerade in den letzten Jahren schnell kälter wird.
In den 100 Jahren ihres Bestehens sind viele junge Studenten bei der Burschenschaft Rugia aktiv geworden. Auch wenn es immer mal wieder Höhen und Tiefen gibt, braucht man um den Fortbestand der Rugia nicht bange zu sein. So wurde im Jahre 2002 auch das 100. Stiftungsfest feierlich und fröhlich begonnen.
von Studiendirektor Gerd Riefling †, Rugia Darmstadt